„Vielseitigkeit“ – dieses Wort bedeutet für die Reiterschaft bei uns mancherlei: Viele denken an die dritte reiterliche olympische Sparte, die seit Jahrzehnten neben der Dressur und dem Springen besteht und früher auch als „Military“ bezeichnet wurde. Was sie von den beiden anderen Sparten unterscheidet, ist nicht nur, dass sie eine Kombination aus verschiedenen Disziplinen ist, sondern vor allem, dass hier die Pferde hinaus ins Gelände gehen. Daher steht „Vielseitigkeit“ für viele stellvertretend für Geländeritte, und oft werden reine Geländeprüfungen deswegen auch als kleine „Vielseitigkeiten“ bezeichnet oder mit solchen verwechselt.
„Vielseitig“ hat aber auch außerhalb der großen sportlichen Sparten eine eigene Bedeutung: Damit beschreiben wir ein Pferd, das für die unterschiedlichsten Zwecke einsetzbar ist: Ja, im Springen, in der Dressur, in der „Vielseitigkeit“, aber eben auch vor der Kutsche, auf der Distanzstrecke, im reinen Freizeitbereich, in der therapeutischen Arbeit und auch als Veredler in anderen Zuchtpopulationen. Auf kaum eine andere Rasse trifft diese Auflistung von Verwendungszwecken so zu, wie auf die Anglo- und Shagya-Araber.
Wie auch ein Zehnkämpfer in der Leichtathletik in den Einzeldisziplinen den Spezialisten nicht unbedingt den Rang ablaufen kann, so ist nicht von vorneherein zu erwarten, dass der Anglo- oder Shagya-Araber ein Gipfelstürmer auf allen Gebieten ist. Aber immer dort, wo er seine vielseitigen Qualitäten in die Waagschale werfen kann, wo er aufgrund seiner vielseitigen Veranlagung aus jeder Situation das beste machen kann, da ist er dem Spezialisten überlegen, der zwar in herausragender Manier einen Weg beschreitet, der ihm durch die Zucht aufgezeigt wurde – doch geraten beiden Pferden Steine in diesen Weg, so fällt es dem Vielseitigen leichter, mit den veränderten Gegebenheiten zurecht zu kommen – und dies bezieht sich auf jede Disziplin.
Nun darf man Vielseitigkeit nicht mit Mittelmaß gleichsetzen. Um in nachvollziehbaren Dimensionen zu bleiben: Es gibt Anglo-Araber, die sich in schweren Springkonkurrenzen behaupten, es gibt sie auch mit Grand-Prix-Erfolgen in der Dressur. „Askar“ und „Emetyt“ sind nur zwei Namen von Anglo-Arabern, die ihre Rasse auf der Bühne der olympischen Vielseitigkeit vertreten haben. Im Ursprungsland gehören die Shagya-Araber zu den Fahrpferden schlechthin – und Ungarn ist ein Land mit langer und international erfolgreicher Fahrsporttradition. Shagya- und Anglo-Araber platzieren sich weit vorne und siegreich auf langen Distanzen und durch ihr den Menschen zugewandtes Wesen brillieren sie im Freizeit- und Therapiebereich. Dass solche Pferde wie der Shagya-Araber „Bajar“ oder der Anglo-Araber „Inshallah“ ganze Wamblutzuchtgebiete prägend beeinflusst haben, illustriert deutlich, dass in jedem Verwendungszweck Spitzenleistungen möglich sind. Und jedes dieser Pferde trägt die Eignung für die anderen Bereiche in sich.